In Vorbereitung meiner Rede zum Friedrich-Gerstäcker-Preis für Jugendliteratur, der Iva Procházková für ihren Roman „Wir treffen uns, wenn alle weg sind“ ehrt, habe ich Rat suchend in „Walden“ von Thoreau gelesen. Es ist schließlich die erste Warnbotschaft an die kommende Konsumiergesellschaft. „Walden: or, Life in the Woods“ ist 1854 erschienen, also vor 153 Jahren. Und ich las folgenden Satz, den ich mir schon vor rund vierzig Jahren angestrichen hatte: „Nicht eher, als bis wir verloren sind – mit anderen Worten: bis wir die Welt verloren haben -, fangen wir an, uns selbst zu finden und gewahr zu werden, wo wir sind und wie endlos ausgedehnt unsere Verbindungen sind.“
Genauer kann man eigentlich nicht sagen, was Iva Procházková mit ihrem Buch meint: Rettung ist möglich, wenn man die Vorzeichen wahrnimmt. Die Erkenntnis des 18jährigen Mojmir in diesem Buch klingt geradezu unverblümt: „Die Welt ist verrückt geworden und es wird wohl nie mehr so sein, wie’s mal war.“
Diese Erkenntnis steht ziemlich zu Anfang des Buches, nämlich auf Seite 31, ist aber schon ein Fazit nach einer Seuchen-Katastrophe ohnegleichen. Natürlich ist die Welt nicht verrückt geworden, die Menschen sind es, die verrückte Sachen machen und damit ihr Weiterleben gefährden. Hier ist es nun so, dass sie buchstäblich verschwinden und nichts außer Müll, Unrat, verlassenen Häusern und Kleidern, die niemand mehr tragen wird, hinterlassen. Die Natur streift mehr und mehr ab, was sie nicht brauchen kann, nämlich Menschen und Menschenwerk.
Das Buch hat eine Botschaft. Büchern mit Botschaften sollte man vorsichtig begegnen – hier nun ist die Botschaft so, dass man sie nicht überhören kann. Sie führt ins Nachdenken: Lebe ich das Leben, das ich mir gewünscht habe? Ist die globalisierte, medienüberflutete, total computerisierte Welt die beste aller Welten? Und was wird sein, wenn ich einmal nicht mehr bin und alles noch viel größere Dimension bekommen hat? Das sind Fragen, die im 21. Jahrhundert niemand beantworten kann.
Die Menschen hier nun, in diesem Roman, vor allem in den großen Städten, sind von der Seuche EBS befallen. Das ist nicht vergleichbar mit der Rinderseuche BSE (die hat man ja gut im Griff). Dieses Mal sind es nicht Rinder, es sind Menschen. Nährboden für den Virus sind, heißt es, die Medien und ihre hemmungslose Präsens. EBS ist (wie im Buch auf Seite 41 erklärt) eine Zivilisationskrankheit, die die Globalisierung mit sich gebracht hat und die nur Menschen befällt. Vor „allem Menschen aus Zivilisationszentren, die wenig Privatsphäre haben, oft unter Stress leiden und den Massenmedien verstärkt ausgesetzt sind.“ Das ist rätselhaft ausgedacht, aber nicht ohne Beispiel in der Literatur. Dort sind Katastrophen jeglicher Art immer gegenwärtig.
Vielleicht sollte man aber kurz daran erinnern, dass der Erzähler dieser Katastrophengeschichte, Mojmir Demeter, gerade mal eben 18 Jahre alt ist. Er erzählt, wie er spricht. Das macht vielleicht den Reiz dieses Buches aus für jugendliche Leser. Sie finden sich selbst wieder. So würden sie es auch erzählen. Ein bisschen durcheinander und immer dicht im Empfindungsbereich. Jedenfalls erzählt hier einer, der noch nicht viel von der Welt gesehen hat, ein verlassenes Kind, zudem ein oft schräg angesehener Roma, somit tief gekränkt und darauf aus, sich wehren zu müssen. Ein Außenseiter also, der sich schmerzhaft bewusst ist, wie allein er ist. Ach, Mojmir und die anderen, die er zufällig trifft, Vasek und vor allem Jessica, sie haben alle noch ihre verflixte Kindheit quer im Halse stecken und kauen daran.
Mojmir aber hat etwas aus sich gemacht, er ist stolz darauf, Koch geworden zu sein. Vom Meisterkoch Matula glänzend ausgebildet, träumte er sich eine erfolgreiche Zukunft. Zusammen mit seinem Freund. Er überlebt die Seuche, von der die Menschheit befallen ist, weil er in der Einsamkeit in der Blockhütte in den Bergen lebt, abgeschieden von allem Schrecklichen in den Städten. Dort pflegt er die alte, bald sterbende Omi Kalomi. Ihr zuliebe bleibt er, ihm zuliebe stirbt sie etwas langsamer. Es gehört zu den schönsten Teilen dieses Buches, wie Mojmir die geliebte alte Frau betreut. Er kocht, er wäscht, er hilft, er organisiert, er beseitigt den Dreck, er tröstet und wird selbst getröstet. Er wird Omi Kalomi, diese weise alte Frau, niemals vergessen. Aber nichts bleibt, wie es ist, Oma Kalomi stirbt. Mojmir zimmert einen Sarg und erfüllt ihren Wunsch, auf dem Friedhof neben ihrer Mutter begraben zu werden. Wie ihm das gelingt, weil er ein Auto fahren lernt, und wie er dann den beiden Martins begegnet, die in dieser leeren Welt überlebt haben, und wie er mit ihrer Hilfe neue Hoffnung schöpft, das gehört zu den schönsten Teilen dieses Buches. Sie umsorgen ihn, aber für ihn ist alles vorbei, er will zurück nach Prag, wo die Gefahr am größten ist, um zu erfahren, was aus seinen Freunden geworden ist.
Es ist immer wieder beeindruckend, wie ausgerechnet Jugendbücher Probleme dieser Welt beim Namen nennen. Dafür gibt es viele Beispiele, unvergessliche Jugendbücher. Ein Erzählen, das sich zwar betont an jugendliche Leser wendet, aber dennoch Literatur zuwege bringt, die gesellschaftliche Probleme gültig reflektiert und ihnen sprachlich gewachsen ist. Ich denke da zum Beispiel an „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang. Auch der Gerstäcker-Preis hat ja in dieser Hinsicht eine breite Spur gelegt. Ich nenne Frederik Hetmann, Klaus Kordon, Ghazi Abdel-Qadir, Arnulf Zitelmann, deren Werke ich seinerzeit verlegerisch betreuen durfte. Zugleich erinnere ich an Leonie Ossowskis Roman „Die große Flatter“ und an bewegende Romane von Mirjam Pressler. Auch Reinhold Zieglers „Es gibt hier nur zwei Richtungen, Mister“ ist mir unvergessen. Schließlich auch Charlotte Kerners „Blueprint“, wo erstmals genetische Zukunft behandelt wird. Oder nehmen wir doch diesen unglaublich eindringlichen, 1995 erschienenen Roman „Eulengesang“ – damit führt uns Iva Procházková in das Jahr 2046, in eine missverständliche computerverwaltete Perfektionswelt, die menschliche Nähe und Gefühle versanden lässt. Dies, als plötzlich die befürchtete Naturkatastrophe über die Stadt hereinbricht. – Sie sehen, Iva Procházková hat ihr Thema nicht verlassen. Sie schildert eine gefühls- und naturfeindliche Welt, der wir immerfort entrinnen möchten. Auch in hundert Jahren wird man darüber noch nachdenken, falls es diese „schöne neue Welt“ dann noch gibt. Vielleicht ist die wichtigste Erkenntnis, die uns somit entstehen kann, diese – nicht mehr an den Fortschritt zu glauben. Oder anders gesagt: Es muss sich etwas ändern, wir müssen uns ändern, damit die Menschheit überleben kann.
Dieses Buch vom Zusammentreffen, wenn alle weg sind, erinnert mich an den seinerzeit kaum beachteten, inzwischen wiederentdeckten Roman „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Ich habe gleich mein zerlesenes Exemplar von 1968 hervorgeholt und mich vergewissert, dass die Versteinerung der Welt und das zufällige Leben hinter der Wand, aufgeschrieben von einer Frau, noch immer gegenwärtig und aktuell ist. Der Hund in der „Wand“ heißt übrigens Luchs, Mojmirs Hund, den er vom Förster übernommen hat, heißt Carmen. Mir gefällt, wie dieser Hund zugegen ist. Mojmir aber ginge buchstäblich vor die Hunde, erlebte er nicht mehrfach Vertrauen und Zuneigung. Zuerst jene Maradonna: „Ich habe nie darüber nachgedacht, ob Maradonna alt oder jung, hübsch oder hässlich war. Sie hatte uns gern, das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit von ihr sagen kann. Durch sie war das Leben im Heim erträglich. Manchmal sogar echt lustig. Auf gar keinen Fall schlechter als irgendwo anders auf diesem merkwürdigen Planenten.“ Später war es das Ehepaar Martin, das ihm Zuflucht anbietet. Dann sind es der aufgelesene achtjährige Vasek mit seinen Jonglierbällen, ein Vietnamesenkind, eigentlich über sein Alter weit hinaus, und schließlich Jessica, kratzbürstig und verstört, wie sie nun mal ist. Dies nicht ohne Grund, wie zu erfahren ist. Diese jungen Menschen sind ohne irgendeine eigene Schuld gestrandet – retten müssen sie sich selbst. Verstörend das vorläufige Ende, ein Schuss aus der Waffe eines durchgedrehten Einzelgängers, der den kleinen Vasek tötet, und dann leider auch, aus dem Gewehr des Försters, Mojmirs Schuß, der ebenso tötet.
Iva Procházková hat sich weit vorgewagt. Ihr Thema ist so eindringlich provokant, dass jeglicher Schonraum, den man den Kinder- bzw. auch den Jugendbüchern gern noch einräumt, nicht mehr möglich ist. Die Welt hat Zähne und beißt zu, wann immer sie will. Da bleibt keine Wahl. Es kennzeichnet die Romane von Iva Procházková (soweit ich sie kenne), dass erlebte Wirklichkeit immer wieder gepaart ist mit dem hoffnungsvollen Versuch, Nähe und Vertrauen, wie auch immer, zu finden.
„Zwischen unserem Traum von der Welt und den realen Möglichkeiten gab es und wird es immer eine Kluft geben.“ Das hat Jan Procházka vor vierzig Jahren aufgeschrieben. Ich hatte das Glück, Iva Procházková kennenzulernen, damals im Prag von 1983, nachdem ich zuvor, nach dem gescheiterten „Prager Frühling“, den großen Antikriegsroman ihres Vater, „Es lebe die Republik“, ediert hatte. Dass Töchter bedeutender Väter auch schreiben können, habe ich rasch begriffen. Nach ihrer Flucht in den Westen erschien ihr erstes Kinderbuch in deutscher Sprache: „Der Sommer hat Eselsohren“ (1984) und später (mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet) „Die Zeit der geheimen Wünsche“. Das ist nun schon lange her. Iva Procházková hat die deutsche Sprache gelernt. Nachdem ihre ersten Bücher noch aus dem Tschechischen übersetzt wurden, erzählt sie längst in deutscher Sprache. Aber sie denkt immer noch so, wie man bevorzugt in Prag die Welt sehen kann, nämlich voll kritischer Bedenken, doch liebevoll und nie ohne Humor. Dazu fällt mir ein Ausspruch des großen tschechischen Erzählers Bohumil Hrabal ein: „Diese Welt ist schön, zum Verrücktwerden schön! Nicht, daß sie es wäre, aber ich sehe sie so.“
Mit anderen Worten, Iva Prochazkova liebt ihre Welt, die Menschen, von denen sie erzählt, auf diese oder jene Weise. Sie ist eine vielseitige Erzählerin, die immer wieder versucht, neben der bestehenden auch noch die kommende Welt zu deuten, eine Welt, die letzten Endes, zumindest in ihren Büchern, auf den allzu schmalen Schultern von Kindern und Jugendlichen ruht.
Hier noch, in Mojmirs Originalton, wie er es sieht: „Freude ist Freude und Trauer ist Trauer, finde ich, und meiner Meinung nach bringt es niemanden um, wenn man zeigt, was man fühlt. Immer, meine ich, nicht nur in Krisensituationen.“ Und dann schließlich noch, was er für Jessica singt, diese alte Roma-Weisheit: „Wenn du den Wagen verloren hast, doch das Pferd dir geblieben ist, klage nicht, Mensch, sei froh. Wenn du deinen Weg verloren hast, doch die Sterne über dem Kopf sehen kannst, sei froh, Mensch, sei froh.“
Froh sind wir jedenfalls, denn die Jury hat Iva Procházková den „Friedrich-Gerstäcker-Preis für Jugendliteratur“ zugesprochen. Dazu gratuliere ich herzlich.