Die Residentur (2020)

Die Residentur (2020)
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Belletristik für Erwachsene
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Braumüller

Die Residentur (Auszug aus einer Rezension) – ein bravourös geschriebenen Thriller. Ohne zu beschönigen, enthüllt darin Iva Procházková negative Phänomene und Übel, die die moderne tschechische und slowakische Gesellschaft plagen. Ihren genreübergreifenden Roman werden Sie von der ersten bis zur letzten Seite in einem Rutsch verschlingen. Korruption, die bis in die höchsten Etagen der Politik reicht, schmutzige Praktiken von Geheimdiensten, Morde an unbequemen Mitmenschen und zweifelhafte Finanzquellen für Wahlkämpfe stehen in schroffem Gegensatz zu den Grundüberzeugungen der Protagonisten, die als Figuren aus Fleisch und Blut auftreten und die psychologisch hervorragend gezeichnet sind. Ist der uralte Kampf von Gut und Böse nur eine Phrase, oder hat es auch heutzutage Sinn, sich für die Ideale von Freiheit und Demokratie einzusetzen? Iva Procházková hält für diese Fragen keine wohlfeilen Antworten bereit, sie versucht in ihrem Roman lediglich, präzise das zu benennen, was uns in der Tiefe unserer Seele beschäftigt. Iva Procházková zwingt uns, über Dinge nachzudenken, die uns vielleicht schon beherrschen, obwohl wir selbst davon noch gar nichts wissen.“

Artúr Soldán, slowakischer Autor, Rechtsanwalt,
Literaturkritiker und Kenner des Geheimdienst-Milieus

 

Auszug aus dem Buch

Der Bentley fuhr durchs Tor in den Wildpark und dann weiter Richtung Forsthaus. Jewgeni kannte den Weg, er war nicht zum ersten Mal hier. Die Route schlängelte sich durchs Tal und von dort aus bot sich ein Blick über Ráž’ gesamtes Anwesen. Es war weitläufig und wirkte jetzt, im weichen Abendlicht, ausgesprochen malerisch.

„Wir haben’s nicht eilig“, ertönte es in Jewgenis Rücken. Sergej Timofejitsch Ostrow bevorzugte langsames Fahren. Am liebsten genoss er es auf dem gemütlichen Sitz eines Bentley oder einer anderen Luxuskarosse, von denen er eine respektable Reihe in seinen Stallungen stehen hatte. Jewgeni ging vom Gas. Er war kein Chauffeur, konnte sich allerdings an diese Rolle anpassen wie an jede andere auch. Anpassungsfähigkeit hatte früher nicht zu seinen starken Seiten gezählt, dennoch hatte er sie sich antrainiert, zusammen mit weiteren Fähigkeiten und Eigenschaften, ohne die er für den Agentenjob nicht geeignet gewesen wäre. Geduld einzuüben brauchte er nicht, die war ihm angeboren. Sie war ein derart markanter Charakterzug von Jewgeni, dass die Instruktoren auf der Akademie des Auslandsnachrichtendienstes SWR nicht verabsäumten, sie in seiner Abschlussbeurteilung hervorzuheben. Genauso wenig Probleme bereitete ihm die Verschwiegenheit. Sowohl sein Vorgesetzter, Oberst Winogradski, als auch Sergej Timofejitsch Ostrow hatten sich schon so oft davon überzeugen können, dass sie sich erst gar keine Mühe gaben, ihre Stimme zu senken.

„Bei dem scheiß Portal lädt andauernd jemand neue Posts hoch“, knurrte Ostrow. „In letzter Zeit hab ich den Eindruck, als würden es sogar mehr werden.“

„Der Blog von Arojan hat immer schon pseudoinformierte Diskuteure und Kommentatoren angelockt. Jetzt, wo ihr Idol gestorben ist, wollen sie ihm offenbar in gewisser Weise posthum die Ehre erweisen, indem sie die Stafette in seinem Geiste weitertragen“, erläuterte ihm Winogradski in seinem fein ziselierten Russisch. Sein Sätze klangen berückend poetisch, als würde er in Puschkin’schen Jamben sprechen. Wer ihm auf einem Empfang oder bei einer anderen offiziellen Gelegenheit begegnete, musste den Eindruck von diplomatischer Noblesse gewinnen. Kaum jemandem wäre es in den Sinn gekommen, dass das der Kopf der Prager Geheimdienst-Außenstelle war. Verächtlich fügte er hinzu: „Dieser Blog ist ein Meer voller Schwachsinn.“

„In dem auch Haie schwimmen“, erwiderte Ostrow trübsinnig. „Einige blecken ihre Zähne so tüchtig, als kämen sie aus meiner Farm.“

Ostrows Troll-Farm, die er in Sankt Petersburg gegründet hatte, war sehr effizient. Sie produzierte Nachrichten am laufenden Band, vierundzwanzig Stunden täglich. Ostrow bestimmte die Hauptthemen, die seine Manager unter den einzelnen Trollen verteilten. So verbreitete sich im Internet das, was der Kreml als notwendig erachtete. In letzter Zeit waren das vor allem die Terroristen, die Wahl zum Europaparlament, das Diskreditieren festgelegter Kandidaten und das Wecken von Sympathien für europäische extremistische Parteien. Ostrow beschäftigte arbeitslose Journalisten, aber auch Lehrer, Studenten und IT-ler. Ihre Fake News beeinflussten nachhaltig die öffentliche Meinung.

„Haben Sie den neuesten Strip gesehen? Da steckt gefährlich viel Sprengstoff drin.“

Jewgeni wusste, dass Ostrow von einer Comic-Reihe sprach, die vor einem Dreivierteljahr zum ersten Mal auf Arojans Portal aufgetaucht war. Nach dem Vorbild der französischen Charlie Hebdo äußerte sie sich mit den Mitteln des Humors zum aktuellen Geschehen. In der Regel hatte sie es auf Politiker abgesehen. Die Titelfigur des letzten Strips war Ostrow, der mit so viel Beobachtungsgabe und Witz gezeichnet war, dass Jewgeni, als er ihn zu Gesicht bekam, vor Lachen regelrecht loswieherte. Ostrows außerordentlich großer, kahler, von Leberflecken übersäter Schädel mit der gut sichtbaren Kerbe in der Mitte sah in der Version des Comic-Zeichners aus wie ein fetter, sommersprossiger Arsch. Auf dem ersten Bild überreichte er dem Patriarchen der Russisch-orthodoxen Kirche einen Sack mit Geld, auf dem zweiten empfing er von ihm den Segen, auf dem dritten kniete er mit gefalteten Händen und betete: Großer Gott, gib uns viele Feinde, damit wir patriotische Kriege führen können, und beschütze Wladimir Wladimirowitsch, dessen weiser Besonnenheit meine kleine, bescheidene Firma ihre staatlichen Aufträge zu verdanken hat … Jewgeni konnte sich nicht genau an den Text in der Sprechblase erinnern, aber jedem, der Ostrow und sein riesiges Waffenimperium kannte, war die Botschaft des Witzes klar, und die Zahl von Besuchern und Likes brach alle Rekorde.

„Wieder ein Werk von diesem Borodin“, knurrte Ostrow. „Höchste Zeit, ihn an die Kandare zu nehmen!“

Jewgeni begriff, dass diese Bemerkung nicht nur Winogradski galt, sondern auch ihm selbst. Möglicherweise vor allem ihm selbst. Immer lief das so über Bande. In seiner Bank war Ostrow ein absolutistischer Herrscher, aber nach außen hin wurde das Spiel gespielt, dass Jewgeni vom Direktor der tschechischen Außenstelle Weisungen bekam. Und was die Tätigkeit im Rahmen des Nachrichtendienstes anging, verzichtete Ostrow ebenso auf jede Art von Einmischung. Es war ein Spiel. Den Rücken stärkte ihm der Kreml, der ihm bereits im Voraus die Absolution erteilt hatte. Was er auch tat, er handelte immer im nationalen Interesse.

„Borodin haben wir in Arbeit“, ließ Winogradski lässig fallen. „Wir sind auf der Zielgeraden. Von diesem Herrn können sie ruhig schon in der Vergangenheitsform sprechen.“

Winogradski richtete seine Aufmerksamkeit auf die Landschaft, die vor dem Fenster vorbeizog. „Der Frühling lässt sich dieses Jahr ordentlich Zeit“, sagte er. Die Natur war jetzt im März bleich und starr, am gegenüberliegenden Ufer des Bachs, an dem entlang sich der Weg schlängelte, entdeckte Jewgeni ein Paar Damhirsche. Auch Ostrow hatte sie bemerkt. Er beugte sich über den Vordersitz und zielte mit einer imaginären Flinte auf sie

„Piff-paff“, machte er. Im nächsten Moment riss er den gedachten Gewehrlauf zur Seite und erlegte noch ein Exemplar, das ein Stückchen weiter graste. „Im Herbst knall ich dann wirklich volle Pulle in euch rein, freut euch schon mal!“, versprach er den Tieren fröhlich und wandte sich an Jewgeni: „Mögen Sie Hirschgulasch?“

„Wahrscheinlich könnte ich’s nicht von Rindsgulasch unterscheiden“, gab Jewgeni zu. „Ein Fleisch wie’s andere, oder?“

Ostrow ließ angesichts von so viel Banausentum einen schmerzhaften Seufzer los und fing umgehend an, die Besonderheiten von Damwildfleisch zu erläutern. Er sprach voller Leidenschaft und Jewgeni wurde bewusst, dass Ostrows Persönlichkeit aus lauter Gegensätzen bestand. Einerseits gab es keinen  härteren Geschäftsmann, niemanden, der weniger Skrupel hätte, andererseits konnte er sich über gutes Essen, den Gewinn eines Golfturniers, den Sieg seiner Fußballmannschaft oder eine Jagdtrophäe freuen wie ein kleines Kind. Er schmiss das Geld für sein Amüsement zum Fenster raus, finanzierte aber auch die Renovierung russischer Sakralbauten, hörte klassische Musik und bei Tschaikowski kamen ihm die Tränen. Er hatte sich eine Luxus-Segeljacht bauen lassen mit Masten höher als der Big Ben und seinen Freund Wladimir Wladimirowitsch zu einem gemeinsamen Urlaubstörn eingeladen. Der Präsident war von der Jacht angeblich dermaßen hingerissen, dass Ostrow sie ihm auf der Stelle zum Geschenk machte. Vielleicht war das ein Märchen, aber wie alle Märchen hatte es im Kern ein Stückchen Wahrheit. Ostrow fehlten für solcherlei Gaben weder die Mittel noch die Freigiebigkeit. Auch jetzt hatte er ein hübsches Geschenk dabei.

„Raten Sie mal, was da für eine Geschichte dahintersteckt!“, überfiel er Ráž senior, kaum dass er aus dem Auto gestiegen war, und überreichte ihm einen Säbel, der in einer mit schwarzem Leder bezogenen Scheide steckte. Ráž drehte sie eine Weile in den Händen hin und her, dann betrachtete er sich das Abzeichen am Knauf des Gefäßes und beförderte die Waffe zutage.

„Ein russischer Dragonersäbel“, sagte er. Voller Bewunderung fügte er hinzu: „Wunderschön restauriert!“

„Wissen Sie, wem der gehört hat? Tschapajew. Und jetzt ist er Ihrer“, verkündete Ostrow und begleitete seine Gabe mit einer theatralischen Geste. Ráž umarmte ihn, den gezückten Säbel immer noch in der Hand. Auf Jewgeni wirkte die Szene komisch, aber er riss sich zusammen, damit er nicht einmal mit der Augenbraue zuckte. Er stand am Auto, holte die Jagdwaffen aus dem Kofferraum und zog ein absolut unbeteiligtes Gesicht. Dabei registrierte er jede Kleinigkeit.

„Sind Sie unterwegs nicht auf Wildschweine gestoßen?“, hörte er Ráž sagen. „Die haben sich dermaßen vermehrt, dass man sich im Wald langsam kaum noch rühren kann. Warten Sie ab, morgen kommen Sie auf Ihre Kosten.“

Jewgeni schloss die Kofferraumklappe und nahm wieder hinterm Lenkrad Platz, um das Auto an die Stelle umzuparken, die ihm Ráž’ Sohn zeigte. Sie lag an der Seitenwand des Gebäudes, dass weniger an ein Forsthaus als eher an eine kleine Burg erinnerte. Im Gästeflügel brannte bereits in zahlreichen Fenstern das Licht und Jewgeni bemerkte, dass in der Nähe mehrere Autos standen. Er nahm sich vor, im Lauf des Abends einen Abstecher in diese Richtung zu machen, um sich die Nummernschilder anzuschauen. Das war Teil seines Jobs.

„Halt!“, hörte er, als er eingeparkt hatte und gerade aussteigen wollte. Vom Haupteingang kam Ostrow im Sturmschritt angelaufen. „Hab ich mein Telefon im Auto gelassen?“

Jewgeni drehte sich um und ließ den Blick über die Rückbank schweifen. Dort lag nichts.

„Ich ruf Sie mal an“, schlug er vor und wählte auf seinem Telefon Ostrows Nummer. Beide warteten schweigend. Nach einer Weile hörte man es läuten. Das Geräusch kam von Ostrow. Er durchsuchte sich systematisch und entdeckte das Telefon schließlich in der Innentasche seines Jacketts.

Kopfschüttelnd sagte er: „Besser wird’s nicht mehr. Langsam sollte ich Pillen gegen Gedächtnisschwund nehmen.“

Gemeinsam gingen sie über den Parkplatz zurück. Die Sonne war bereits hinter den Baumkronen verschwunden, es wurde dunkel, aus dem Wald wehte feuchte Kälte heran, die eine frostige Nacht ankündigte. Winogradski stand mit Ráž und Sohn auf der Veranda, durch das bodentiefe Fenster hinter ihnen sah man die Flammen des Kamins in der Halle.

„Kennen Sie den?“, fragte Ostrow und hielt Jewgeni sein Telefon vor die Nase. Auf dem Display war ein Mann in mittleren Jahren mit markantem Profil. Jewgeni war sich sicher, dass er ihm nie begegnet war.

„Wer ist das?“

„Viktor Duba. Gazettenschreiberling, aufdringlicher Schnüffler, Kaffeehausdebatteur. Ein schlaues jüdisches Aas“, informierte Ostrow ihn und verlangsamte seinen Schritt.

„Warum interessiert er uns?“, fragte Jewgeni und passte seine Geschwindigkeit Ostrows Tempo an. Es war offensichtlich, dass das Gespräch beendet sein sollte, ehe sie bei den anderen ankamen. Genau wegen dieses Gesprächs, ging ihm auf einmal ein Licht auf, hatte Ostrow gerade die Szene mit dem vergessenen Telefon gespielt. Er wollte unter vier Augen mit Jewgeni sprechen.

„Ob er uns interessiert oder nicht, das wird sich erst noch herausstellen, mein Freund“, sagte er. „So lange widmen Sie ihm einfach Ihre Aufmerksamkeit. Morgen wird er hier auftauchen.“

„Er kommt zur Jagd?“

Ostrow zuckte mit einer Art melancholischer Ergebenheit die Achseln. „Er hat eine Einladung bekommen. Ich schätze, er wird nicht widerstehen können und kommt her.“ Er senkte seinen Blick zu Dubas scharf geschnittenen Gesichtszügen. „Das ist ein Mann mit vielen Talenten, aber er hat auch eine unglückliche Eigenschaft. Raten Sie mal, welche.“

„Die Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken?“, tippte Jewgeni.

„Zur falschen Zeit am falschen Ort aufzutauchen.“

 

Übersetzung aus dem Tschechischen: Mirko Kraetsch

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