Es gibt kleine und große Kinder, so wie es kleine und große Städte gibt. Die Stadt, in der Vinzenz lebt, ist groß. Vinzenz ist auch groß. Wenn ihr ihn auf der Straße trefft, werdet ihr denken, er sei zehn Jahre alt. Das stimmt nicht. Im letzten Dezember wurde er acht. Er trägt die gleichen Schuhe wie seine Mutter. Damit will ich nicht sagen, er würde Sandaletten mit hohem Absatz gehen – meistens hat er etwas abgetretene Turnschuhe an, deren Schnürbänder wer weiß warum immerwährend offen sind – , aber die Größe, die Schuhgröße, die ist gleich. Mutters Füße wachsen nicht mehr, doch Vinzenz muss jedes halbe Jahr ein neues Paar Schuhe bekommen, weil ihm die Alten schon wieder zu klein sind. „Das ist aber eine ganz schöne Summe Geld, die wir in Vinzenz´ Füsse stopfen!“, beschwert sich Vater. Er meint sein Gejammer nicht ernst. Vinzenz ist ein Einzelkind, und Vater würde alles auf der Welt für ihn tun. Wenn es nötig wäre, würde er ihm jeden Montag ein neues Paar Schuhe kaufen.
Vinzenz wächst meistens in der Nacht. Gestern musste er noch auf den Zehenspitzen stehen, um die Klinke an der großen Tür des Museums runterzudrücken, in dem Vater arbeitet, heute schafft er das im Handumdrehen. „Zur Dino – Abteilung im ersten Stock rechts!“, ruft die Pförtnerin Vinzenz spöttisch hinterher. Sie macht sich stets über Vinzenz´ Größe lustig. Aber Vinzenz ist kein Dino. Ganz im Gegenteil, er kommt sich schwach vor. Manchmal ist er so müde von seinem überschnellen Wachstum, dass er kaum Kraft hat zu sprechen, mit anderen Kindern zu spielen oder sogar nur seine Beine zu heben. Ihm scheint, als würde er ein Fünfzigkilogewicht hinter sich herziehen.
„Du musst dich oft ausruhen und viele Vitamine essen“, rät der Kinderarzt, der Vinzenz regelmäßig wiegt, misst und impft. „Um wie viel Uhr gehst du denn schlafen?“ Vinzenz ist jeden Tag schon um acht Uhr im Bett, aber wenn Mutter das Licht ausschaltet und weggeht, wälzt sich Vinzenz noch lange von einer Seite zur anderen und kann nicht einschlafen. Er muss an alles denken, was während des Tages passiert ist. Zum Beispiel an den sommersprossigen Emil, der Vinzenz Pausenbrot weggenommen hat. Oder an die Türklinke, die Vinzenz kaputt gemacht hat, doch nicht mutig genug war, es zuzugeben. Er ist kein Held. Manchmal hat er Angst und weiß nicht richtig, warum. Zum Beispiel abends im Bett. Das Zimmer ist voll von merkwürdigen Geräuschen, und wenn Vinzenz nachts aufs Klo muss, strecken sich aus allen Ecken seltsame Schatten nach ihm aus. „Wer sich fürchtet, macht ins Bett!“, lacht Vater über Vinzenz´ Angst und schüttelt den Kopf über die Taschenlampe, die Vinzenz unter seinem Kopfkissen versteckt.