Im Negligé (2016)

Im Negligé (2016)
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Paseka

Im Negligé

der zweite Fall von Komissar Holina

Prag, kurz vor Weihnachten. Im verschneiten Garten liegt eine tote junge Frau, fast nackt, nur in erotische Wäsche gekleidet. Alles deutet auf einen Sexualmord. Komissar Holina versucht in die Kreise der toten Anh einzudringen. Die Ermittlungen führen ihn zuerst in die von Skandalen umwitterte vietnamesische Markthalle SAPA und zu den rücksichtslosen Konkurenzkämpfen der Händler, später in eine exklusive Nachtbar, wo junge Frauen im sparsamen erotischen Negligé die Gäste bedienen. Holina stößt auf eine ganze Reihe von Verdächtigen, aber erst dann, wenn er die Bekanntschaft mit der rätselhaften Schamanin macht und dem Ingenieur, der nicht einmal bis zehn zählen kann, begegnet, wird ihm klar, dass hinter dem Mord der schönen Vietnamesin etwas ganz Besonderes verborgen ist.

Paseka 2016,  in Braumüller Verlag voraussichtlich 2021

 

 

„Anh, kommst du jetzt?“

„Gleich!“

„Nimm Tisch sieben. Dort hab ich dir Bürohengste hingesetzt“, informierte sie Vandas Stimme. „Es sind vier, sieht so aus, als ob sie Spendierhosen anhaben.“

„Ich bin in einer Minute bei ihnen.“

Vor der Tür eilten Schritte davon. Anh zog zum letzten Mal die Nadel durch den Saum, machte einen Knoten und biss den Faden durch. Sie testete, ob die geflickte Stelle hielt. Der rote Netzoverall kontrastierte effektvoll mit ihrer Haut und verdeckte genau so viel, dass sie sich nicht völlig nackt fühlte. Er sah attraktiv aus, aber es war billiger Krempel. Er war gerissen, kaum dass sie ihn übergestreift hatte. Morgen würde sie sich einen besseren kaufen. Sie konnte billigen Krempel nicht leiden, sie kam sich darin selber billig vor. Eilig zog sie ihre Wimpern nach und fuhr sich mit dem blutroten Lippenstift über den Mund, die Stelle, wo die Haarsträhne abgeschnitten war, verbarg sie unter dem Stirnband. Perfekt! Sie verließ die Umkleide, und während sie auf ihren hohen Absätzen in den Gastraum ging, justierte sie ihren Gesichtsausdruck nach. Was Andrej Knotek, die arme Sau, in den siebten Himmel beförderte, war für die Gäste der Niveau Bar nicht genug. Die hatten wirklich hohe Ansprüche. Darauf hatte Vanda sie gleich aufmerksam gemacht, als sie mit ihrem Angebot kam. „Oben-unten-ohne heißt nicht, dass du nackig Cocktails servierst und das war’s dann. Sie wollen was Außergewöhnliches erleben. Alles muss Hand in Hand gehen: Make-up, Gang, Parfüm, Intonation und Gesichtsausdruck. Gib ihnen das Gefühl, dass jedes Hinternschwenken und jedes Augenzwinkern ein persönlicher Extrabonus ist. Sie lieben Bonusse, deswegen gehen sie hierher und nicht in eine normale Kneipe.“

Anh wusste sehr gut, was hohe Ansprüche waren. Ihre waren ebenfalls hoch und sie zögerte nicht, für ihre Befriedigung auch etwas zu tun. Fleißig büffelte sie Rechtsvorschriften und Gesetzestexte, bereitwillig ging sie mit Knotek spazieren, machte ihm das Essen warm, diskutierte mit ihm über die Moral von Hänsel und Gretel, spielte mit ihm Mensch, ärgere dich nicht, und wenn er mal zu Geld kam, half sie ihm gern, es wieder loszuwerden. Es waren kleine Beträge, aber er verlangte auch fast nichts dafür. Es genügte ihm, wenn er ihr die Haare zerstrubbeln durfte, sich ein wenig an sie drücken, ihre Brustwarzen anfassen, in seine Hose abspritzen und sie busseln, wo sie ihm das erlaubte. Immer tat er nur das, was sie zuließ – ein fünfundvierzigj.hriger Mann, der sich wie ein artiger Junge benahm. Bevor ihm der Unfall passiert war, musste er interessant gewesen sein. Etwas von seinem früheren Sexappeal war ihm nach wie vor geblieben.

Die Bar füllte sich gerade erst. Anh war jetzt die zweite Woche hier und immer noch kämpfte sie gegen das Lampenfieber. Beim Einstellungsgespräch hatte der Manager mit ihr sachlich, fast schon unverschämt gesprochen. „Eine Vietnamesin hatten wir hier noch nicht“, bemerkte er und musterte sie aus fast zwei Metern Körpergröße. In ihren Stiefeln mit dem flachen Absatz kam sie ihm zu klein vor. „Das braucht Stöckel. So hoch, wie’s geht.“ Sie begriff, dass das ein Befehl war. Er legte ihr nahe, sich den Kunden nicht als Anh vorzustellen, sondern als Anni. Sie bekam eine Probezeit bis Weihnachten. Falls sie sich nicht bewähren sollte, dann adieu, Interessentinnen gebe es mehr als genug. Anh bezweifelte das nicht. Vanda hatte ihr geflüstert, dass in einer Stunde bis zu fünfhundert Kronen Verdienst drin seien. Der Manager gab ihr zu verstehen, dass sie noch viel mehr Geld machen könne. Falls sie das wolle. Ohne zu zögern sagte sie ihm, dass sie das wolle und dass sie dafür alles Nötige tun werde. Und das hatte sie dann auch.

Tisch sieben stand im hinteren Eck des Gastraums. Dort saßen drei Männer. Der vierte war offenbar auf dem Klo, am leeren Stuhl hing sein schwarzer Schal. Während Anh zum Tisch ging, checkte sie das Trio ab. Zwei um die fünfzig, einer noch ganz jung. Gut gekleidet, kultiviert. Geschäftspartner, oder eher Kollegen aus derselben Firma, schätzte sie.

„Guten Abend, die Herren“, grü.te sie mit einem Lächeln, das sie in den vorausgegangenen Tagen gründlich einstudiert hatte. „Darf ich Ihnen gratulieren?“ Sie wartete ab, wer von ihnen als Erster reagieren würde.

„Zu was?“, fragte einer der Fünfzigj.hrigen. Am Handgelenk trug er eine Rolex, rosa Gold.

„Dass Sie sich die beste Bar von Prag ausgesucht haben“, antwortete sie.

„Wer sagt, dass es die beste ist?“, übernahm der zweite Fünfzigj.hrige die Konversation. In seinen Augen ein fröhliches Funkeln, er wollte sich amüsieren. Anh lächelte noch ein paar Millimeter breiter.

„Ich heiße Anni und werde Sie heute Abend betreuen“, machte sie mit ihren einleitenden Phrasen weiter und ließ ihren Blick von einem zum anderen gleiten. Vanda hatte ihr erklärt, dass es wichtig sei, jedem am Tisch die gleiche Aufmerksamkeit zu Iwidmen. Keiner dürfe das Gefühl haben, von ihr vernachlässigt zu werden. „Darf ich Sie im Namen des Hauses auf unseren original Begrü.ungscocktail Niveau einladen?“ „Ich bin offen für alles, was Sie uns anbieten, Anni“, versicherte ihr der mit den funkelnden Augen.

„Ich würde lieber bei den bewährten Eröffnungen bleiben“, verkündete die Rolex.

„Bringen Sie mir einen Jack Daniels, ohne Eis.“

Blieb noch der letzte der drei. Bis jetzt war er ihr mit dem Blick ausgewichen, sein Gesichtsausdruck ließ ahnen, dass er nicht aus eigenem Antrieb hergekommen war. Die älteren Kollegen hatten ihn offensichtlich überredet.

„Was macht denn diesen Niveau-Cocktail so original?“, fragte er. „Das Rezept ist eine Eigenkreation unseres Barmanns“, erläuterte sie mit einem Versprechen in der Stimme. Alles, was in der Bar angeboten wurde, musste begehrenswert und exklusiv wirken. „Die Grundlage ist schwedischer Wodka und frisch gepresster Limettensaft. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten. Nehmen Sie einen?“

Endlich erwischte sie seinen Blick. Ihr fiel auf, dass er sehr jung war. Sü.. Mit einem Augenbrauenpiercing. Es war ihm peinlich, hier zu sein. Er schaute ihr direkt in die Augen, damit sie nicht dachte, dass ihn nur ihr nackter Körper interessiere.

„Also gut“, sagte er, bemüht um einen ungezwungenen Tonfall. „Ich probier’s mal.“

Anh wollte gerade gehen, als hinter ihrem Rücken eine weitere Stimme erklang. Sie gehörte dem Vierten, dem Besitzer des schwarzen Schals. „Hab ich was verpasst? Was wird denn geboten?“ Der gut bekannte Bariton mit dem gut bekannten dumpfen A. Der gut bekannte Duft. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Anh spürte, dass sich ihr Magen heftig verkrampfte, durch ihren Kopf schwirrten diverse Einfälle, wie sie sich retten könnte.

Alle praktisch unausführbar. Als sie diese Arbeit angenommen hatte, war ihr klar gewesen, dass so etwas passieren könnte. Sie hatte allerdings nicht erwartet, dass es so schnell geschehen würde. Angestrengt schluckte sie, beruhigte ihre Atmung und drehte sich um. Er stand vor ihr in seinem besten Anzug, dezent umgeben vom Duft nach Terre d’Hermes, das lockige Haar fiel leger in die Stirn. So unerwartet diese Begegnung auch für ihn sein mochte, er ließ sich nichts anmerken. Er blickte Anh an, als sehe er sie zum ersten Mal im Leben.

„Anni offeriert uns einen Cocktail aufs Haus“, informierte ihn vergnügt der Mann mit dem Funkeln im Blick.

„Willst du einen?“

„Das überlasse ich Anni, sie soll mir bringen, was sie selbst als passend erachtet“, antwortete er. „Ich bin mir sicher, dass sie dabei richtig liegt.“

Er fuhr sich mit der Hand über den schmalen, sorgfältig gestutzten Schnauzbart, und dann machte er eine Geste, die seine Begleiter nicht sehen konnten. Sie war vielsagend: Daumen nach unten. Er ließ sie kein bisschen im Unklaren darüber, was noch passieren würde.

„Ich werde mir Mühe geben“, säuselte sie. „Bin gleich zurück.“

Sie schenkte dem Grüppchen ein strahlendes Lächeln und machte eine elegante Drehung auf ihren hohen Absätzen. Als sie zur Bar ging, war ihr Körper unter dem Netzstoff des Overalls mit einer Gänsehaut überzogen. Dass die heutige Nacht Konsequenzen haben würde, daran gab es keinen Zweifel. Die Frage war nur, wie schnell sie eintreten würden und ob sie ihnen zuvorkommen könnte.

Übersetzung aus dem Tschechischen: Mirko Kraetsch

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Eine Handvoll Daten

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